Kritiken


Claus Löser, Filmdienst 9/2005

Unternehmen Paradies

Noch ein Berlin-Film? Wieder Potsdamer Platz, S-Bahn und Siegessäule? Love Parade, Straßenkampf und Stroboskop-Geflacker? Hat man das nicht schon alles bis zum Überdruss gesehen? Lässt sich auf Dauer nicht auch eine Stadt zu Tode fotografieren? Volker Sattels „Unternehmen Paradies“ weist auf den ersten Blick alle Zutaten auf, aus denen all die anderen zwischen Tourismuswerbung, Zeitgeist-Behauptung und Bildschirmschonung angesiedelten Hauptstadtfilme zusammengesetzt sind. Aber Sattels Film ist anders:
Dem völlig unprätentiösen Essay gelingt es auf fast beiläufige Weise, komplexe Zusammenhänge zu fixieren.
Seine prägnanten, dem amorphen Zeitstrom entrissenen Bilder fügen sich zu einer vielschichtigen Collage über Urbanität, Masse und Verlorenheit. Damit emanzipiert sich der Film schnell von seinem äußerlich abgegriffenen Thema, gibt dem Objekt der Beobachtung – der Stadt Berlin – im Umkehrschluss einen Teil seiner Unschuld zurück.

„Unternehmen Paradies“ wurde bereits 2000 gedreht und zwei Jahre später fertig gestellt. Wenn der Film nun im Kino anläuft, ist er einerseits selbst schon Geschichte; andererseits erweist er sich als überaus aktuell – weil seine Perspektive eben keine der Bestätigung, sondern eine der Neugier ist. Die Aufgeschlossenheit der Beobachtung überträgt ihre Spannung auf den Zuschauer. Wie schon in seiner mittellangen Hamburg-Dokumentation „040“, die 1999 als Abschlussarbeit an der Ludwigsburger Filmakademie entstand, nimmt sich Sattel auch bei seinem Berlin-Porträt viel Zeit, um dem Organismus der Stadt näher zu kommen und ihren Pulsschlag aufzuspüren.
Er fokussiert das Periphere, findet gerade in den Nischen Überraschungen und baut aus ihnen kleine, lose miteinander verzahnte Erzählungen. Spürbar ist auch der noch unverstellte Blick des Filmemachers auf seine neue Wahlheimat: er macht in ihr Details und Zusammenhänge aus, die durch die Alltäglichkeit der Wahrnehmung sonst verschliffen sind und übersehen werden. Eines zusätzlichen Erklärungsapparats bedarf es dabei nicht, im Gegenteil – was im Film auf visueller oder akustischer Ebene existiert, wird integraler Bestandteil der choreografischen Gesamtkonzeption. Auch Tim Elzers Musik liefert niemals atmosphärische Kommentare, artikuliert vielmehr eine eigenständige, kontrapunktisch wirkende Stimme.
Unwillkürlich assoziiert sich bei solchen Berlin-Filmen Walter Ruttmanns „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ (1927). Gewiss, ein direkter Vergleich mit diesem Klassiker verbietet sich. Interessanter als die Ähnlichkeiten fallen ohnehin die Unterschiede aus. Obwohl einige Schauplätze in beiden Filmen vorkommen, könnte ihre ikonografische Wirkung kaum unterschiedlicher sein. Bestand bei Ruttmann der Grundtenor dieser Stadt aus purer Dynamik, die sich im Gebaren von Architektur, Verkehr und Passanten reproduzierte, erscheint bei Sattel das städtische Umfeld als Kulisse, bespielt von Statisten. Nicht zufällig ist aus dem Off mehrfach das Stimmen von Instrumenten zu vernehmen, erinnert die strenge Kadrierung der Bildkomposition an die eines Spielfilms. „Unternehmen Paradies“ verweist ästhetisch eher auf Ulrich Seidl als auf Ruttmann. Der Film fiktionalisiert die Realität nicht, entdeckt vielmehr in ihr Tendenzen öffentlicher Inszenierung. Wenn Gerhard Schröder sich auf das Eintreffen von Bill Clinton vorbereitet, steht er vor Hunderten Mikrofonen und Kameras natürlich auf einer Bühne. Ebenso – wenn auch auf geringerem Niveau – die ausschwärmenden Werberinnen einer PR-Aktion, die Touristen in eingeübten Sätzen die Vorzüge eines Produktes nahe legen. Es wird viel gegähnt, auf die Uhr geschaut, auf der Stelle getreten in diesem Film. Der Kanzler, seine Leibwächter, die Anzugträger in den grell beleuchteten Büros, auch die Konsumenten, Bettler, Demonstranten und das übrige Personal – sie alle scheinen sich im Interim zwischen zwei Auftritten zu befinden, ohne zu bemerken, dass das Stück schon längst läuft. Thomas Schadts Remake von „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ (fd 35 387) war ein filmisches Missverständnis. Die werkgetreue Adaption des Klassikers mag eine Herausforderung gewesen sein; indem er jedoch lediglich Montage und Drehorte rekapitulierte, verfehlte er den aktuellen Rhythmus der Metropole. Sattels Verdienst ist es, die unterschwelligen Schwingungen, die in ihrem Zusammenspiel den Charakter eines urbanen Gefüges ausmachen, aufzunehmen und sanft zu verstärken. Damit hat er eine adäquate Form für sein Unterfangen gefunden. Sein Film reiht sich ein in die Tradition wichtiger Städteporträts von Alexander Hackenschmid über Prag (1930), Weegee über New York (1948) oder Agnès Vardas Paris-Porträt (1958).




Ingrid Beerbaum, Scheinschlag


Das Ornament der Menschenmenge

Ein Dokumentarfilm rückt die Statisten im
neuen Berlin ins Bild

Woran denken Sie beim Titel Unternehmen Paradies?
An ein Strategiespiel oder vielleicht an einen eher mittelmäßigen Abenteuerfilm mit exotischen Schauplätzen, in dem irgendetwas erobert werden muß? Völlig daneben. Es sei denn, Berlin ist exotisch, also fremd für Sie.

Genau das ist der Ansatz von Volker Sattel,
dem Regisseur des Dokumentarfilms Unternehmen Paradies, der damit seinen ganz eigenen Blick auf die Stadt zeigt. Der Film hatte im Rahmen der Reihe „Perspektive Deutsches Kino" auf der Berlinale schon 2003 Premiere. Damals wurde ihm viel Beachtung zuteil.
Dennoch brauchte es noch einmal zwei Jahre, bis sich ein Verleih fand. Das liegt zum einen daran, daß Sattel den Film ohne Förderung gedreht hat, zum anderen daran,
daß der Film eher sperrig geraten ist. Denn Sattel läßt einfach Bilder sprechen, die – geschickt montiert – auch ohne Kommentare oder Originaltöne eine Geschichte von der Stadt und ihren Bewohnern erzählen.

Man sieht zunächst eine Fahrt durch eine Vorortsiedlung an einem Sommermorgen. Die Menschen frühstücken,
holen in sehr salopper Kleidung ihre Zeitung oder sprengen den Rasen. Ein harter Schnitt, und man findet sich auf der Baustelle Potsdamer Platz wieder, genauer: an einem Cola-Automaten. Oder es werden aufsteigende Vogelschwärme am Berliner Dom mit einer auseinanderstrebenden Menschenmenge bei der Kreuzberger Maidemonstration kontrastiert. Verschiedene Aufläufe zu Staatsbesuchen und Touristenmassen im Sonycenter treffen auf die Zuschauer einer Erotikmesse. Alles Ereignisse, die auch sonst in den Medien reflektiert werden, nur ist hier der Gegenstand das Publikum. Putin und Diepgen beim Staatsbesuch sind da weit weniger interessant als die Sicherheitsleute oder Limousinenfahrer und ihr Verhalten am Rande. Indem die Kamera ihren Fokus nur ein Stückchen verrückt, zeigt sie ein anderes Bild der Stadt und ihrer Menschen. Es ist ein sehr distanziertes, gleichzeitig aber auch vertrautes. Denn es spiegelt das wider, was die Normalbürger von derartigen Ereignissen mitbekommen. Dazu puckert unaufdringliche Musik.

„Ich wollte weniger ein Porträt über Berlin drehen, vielmehr ging es mir um die urbanen Muster und Mechanismen im allgemeinen. Mein Ziel war es, Strukturen des städtischen Umfelds und die Verbindungen der Menschen mit dem urbanen Raum sichtbar zu machen", sagt Volker Sattel selbst über seinen Debütfilm. Obwohl das sehr nach Stadtsoziologie-Seminar klingt, der Film hat nichts davon.

Die meisten Aufnahmen stammen schon aus dem Jahr 2000 und haben so beinahe schon einen historischen Wert. Damals war der Potsdamer Platz noch nicht vollendet,
am Brandenburger Tor wurde gebaut, es gab noch mehr Brachen als heute. Aber Sattel geht es offensichtlich nicht um diese bauliche Entwicklung, sondern um die Menschen, die sich in diesen Räumen bewegen und um urbane Panoramen.

Irgendwann entwickeln diese Bilder einen eigenen Sog, dem man sich nicht entziehen kann und will. Und wer sich darauf einläßt, dem erzählen die Bilder von der Stadt und ihren Bewohnern, als sie noch mehr im Werden war als jetzt. Der Titel ist also eine Anspielung darauf, daß die Stadt auch ein Ort der Träume ist, von der großen Chance,
der Selbstverwirklichung oder was auch immer die Leute hierherzieht.



Detlef Kuhlbrodt, taz Berlin vom 24.3.2005

So lernt man das alles kennen

Im Allgemeinen gibt es immer Erfahrungsschnittpunkte:
Mit "Die Liebe zum Schrott" und "Unternehmen Paradies" kommen gleich zwei Großstadtfilme ins Kino - der eine über den Osten von Leipzig, der andere über Berlin als fremde, glitzernde Stadt

Großstadtfilme sind ein schönes Genre. Alles ist möglich.
Im Allgemeinen gibt es immer Erfahrungsschnittpunkte, denn da oder dort war man ja auch schon gewesen. Vor allem kennt man die Stadt selber wieder von Medienbildern. Aus den Nachrichten, aus albernen Werbefilmen, aus dem "Tatort" und von anderen Dokumentarfilmen. Leipzig zum Beispiel. Seit der Wende gab es wenigstens fünf größere Dokumentarfilme, die in Leipzig spielen. Andreas Voigt hatte in seiner Leipzigtrilogie u. a. rechtsorientierte Jugendliche porträtiert; Gerd Kroske hatte sich mit Müllmännern beschäftigt.

Bernhard Wutka und Thomas Doberitzsch konzentrieren sich in ihrem zwischen 2000 und 2002 entstandenen Film "Die Liebe zum Schrott" auf den Leipziger Osten, eine, wie man so sagt, verrufene Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit, Kriminalität und rechten Jugendlichen, einem Viertel mit vielen Billigläden und vergleichsweise hohem Ausländeranteil, einem Stadtteil "mit besonderem Entwicklungsbedarf", für den es dann Fördergelder aus dem Bund-Länder-Förderprogramm gibt. Das Stadtteilporträt des aus Göttingen stammenden Regisseurs Wutka, der als Professor an der Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur in Leipzig arbeitet, ist interessant, wenn auch etwas konventionell geraten.

Was immer so gerne hervorgehoben wird, als sei es etwas Besonderes - dass die Filmemacher nicht urteilen, sondern nur beobachten, auf dass der Zuschauer sich sein eigenes Bild machen kann, ist ja längst gang und gäbe, vielleicht auch bequemer, in gewisser Weise auch verlogen - denn es ist ja immer noch der Regisseur, der nach bestimmten Kriterien das, was er filmt, aussucht, gegeneinander schneidet usw. Dokumentarfilme, die Position beziehen, die versuchen, das Gefilmte irgendwie zu analysieren, in denen ein bestimmtes Interesse, ein meinetwegen auch ganz privat verschrobenes Begehren des Filmemachers zu spüren ist, in denen vor allem der hinter der Kamera kenntlich wird und in einen Dialog mit dem Gefilmten tritt, sind die Ausnahme. Wie auch immer.

Im Genre der Stadtgebietsfilme ist "Die Liebe zum Schrott" recht schön geraten. Eine Sammlung architektonischer Impressionen, Andeutungen von Lebensgeschichten. Ein Inder hat im Dachgeschoss seines Hauses einen Sikh-Tempel eingerichtet und hebt die Toleranz seiner Religion hervor; ein positiv denkender Student badet Sekt trinkend in seinem Garten und lobt den Sommer in Leipzig; alternative KünstlerInnen machen ein Straßenfest; Arbeitslose blicken düster in die Zukunft, zwei Frauen kümmern sich um Junkies, die selber nie zu sehen sind; frustrierte Rentner beschweren sich über Ausländer; ein Skin redet im Off rechtsradikalen Schwachsinn. So lernt man das alles kennen. Am besten ist ein älterer Schrottsammler mit Alkoholproblemen, der das deutsche Sozialfürsorgesystem überschwänglich lobt. So was sieht man selten.

"Die Liebe zum Schrott" ist ganz okay; richtig klasse dagegen ist "Unternehmen Paradies", der Berlin-Film von Volker Sattel. Der Film ist eine Collage. Es gibt keine Geschichten, keine Hauptfiguren, nur Gegenden. Architekturaufnahmen, die an die Filme Johann van der Keukens erinnern. Viel Potsdamer Platz und Musterhaussiedlungen in Vororten, Ereignisse wie Staatsbesuche, Karneval der Kulturen, Erster Mai und Technoevents, eine nur selten überambitionierte Tonspur und ein wunderbar musikalischer Schnitt. Es gibt melancholische fotografische Bilder urbaner Entfremdung - Menschen im Bus im Gegenlicht, drei Leute, die auf den Bus warten. Stadtaufnahmen, die die mediale Selbstrepräsentation Berlins reflektieren, wenn Aufnahmen von Staatsbesuchen, die hinter die Bühne sozusagen blicken, wo man Schröder von hinten sieht und Sabine Christiansen, neben Livebildern aus den Pressezentren stehen, in denen die Journalisten die Ereignisse auf Großbildleinwänden verfolgen.

Man sieht Schröder mit Putin am Brandenburger Tor, wie er den wartenden Bildjournalisten zuruft: "Nehmt doch Archivbilder. Da gibt es doch noch genug davon", und der Kopf addiert die unausgesprochene Medientheorie. Die Stadt, die aus der üblichen Kiezperspektive vertraut ist, wird einem wieder großstädtisch und fremd in diesem Film, der sich dem kumpelhaften Geduze fernsehgängiger Dokumentationen verweigert, in dem vor allem niemand, der gefilmt wird, zurückschaut. Als Zuschauer ist man unbeteiligter Beobachter. Der mitleidlose, unbeteiligte Blick der Kamera verfremdet auch das, was man kennt. Und plötzlich wirkt Berlin so groß und fremd, so kalt glitzernd, vielfältig und ein bisschen beängstigend wie Tokio oder New York.



Stefan Pethke, Jungleworld

Der Doppelblick
Neuer Berlin-Film

1927 wurde Walter Ruttmanns berühmter Dokumentarfilm »Berlin – Sinfonie einer Großstadt« uraufgeführt.

Pünktlich zum 75jährigen Jubiläum zeigte Thomas Schadt unter dem gleichen Titel seine Neuinterpretation von Ruttmanns Klassiker, einen 75minütigen Film, der den Anspruch auf Musealität sofort über die eingesetzten Produktionsmitteln formuliert: 35 mm, schwarz-weiß, stumm, über allen Bildern eine für den Film komponierte und vom Orchester des Südwestdeutschen Rundfunks eingespielte Musik. Stolz berichtete Schadt in einem Interview von über 96 000 Noten in der Partitur, von 70 Musikern und 60 Mikrofonen.

Ebenfalls im Jahr 2002 präsentierte Volker Sattel sein experimentelles Berlin-Porträt »Unternehmen Paradies«, das freilich in dieser Woche erst offiziell in die Kinos kommt. Auch hier ist eine Orientierung am Vorbild Ruttmann nicht zu übersehen, simuliert die Montage den Ablauf eines Tages: Im flachen Morgenlicht gleitet die Kamera zu Beginn an Reihenhäusern der Potsdamer Vorstadt entlang. Aufhören wird die Bewegung des Films in der Nacht eines Mouse-on-Mars-Konzerts.

Bis zum Ende wahrt Sattel Abstand, das ist seine Arbeitsvoraussetzung. Zwar operierte er mit einem kleinen Team, aber die gängig gewordenen Authentifizierungsverfahren, diese »Mitten-drin-im-echten-Leben«-Behauptungen von Wackelkamera, Stakkato-Schnitt und lauten Direkttönen hält er uns vom Leib. Lieber setzt er auf feingliedrige, mit der musique concrète verwandte Toncollagen, auf längere und vor allem auf feste Kameraeinstellungen.

Besonders deutlich wird sein Bekenntnis zum Anti-Festakt-Kino, wenn Sattel Veranstaltungen im öffentlichen Raum filmt. Zielsicher begibt er sich in die Versuchsanordnung der Mediendemokratie. Mehr als einmal fängt er dabei einen misstrauischen Seitenblick von Vertretern des Betriebs ein, wenn er im Dickicht von Stativen, Mikros, Kabeln und Satellitenschüsseln seine leicht verschobenen Standpunkte einnimmt. Er guckt von innen nach außen, auf Nischen und Ränder – nicht nur räumlich, sondern auch in der Zeit: Das Wesentliche findet in diesen Bildern noch nicht oder nicht mehr statt. Und wenn doch einmal etwas mit Nachrichtenwert passiert, dann misst Sattel dem nicht mehr Bedeutung bei als unbeteiligten Zuschauern hinter der Absperrung, der großen Anzahl verschiedenster Fahrzeuge in einem Staatsgast-Konvoi oder dem Einstudieren von Begrüßungsritualen auf roten Teppichen.

Sattel kann sich treiben lassen in den Ereignissen, ohne die Konzentration zu verlieren. Wie ein Surfer wartet er auf seine Welle, mit Eleganz und Gelassenheit und Gespür für den richtigen Augenblick.

Es gelingt Sattel ein doppelter Blick: Indem er auf Nebensächlichkeiten verweist, erinnert er gleichzeitig an das gewohnte Bild der elektronischen Berichterstattung. Sein On liefert das Off zum Standard-Bild, das gleichzeitig über die konditionierte Seherfahrung in seinen Ausschnitten anwesend bleibt. Zwei Rahmungsmethoden verschränken sich – man kann so von einem virtuellen Panorama sprechen, das nur das Gehirn herzustellen in der Lage ist.

Sattel setzt auf genau diese Kraft des Fragmentarischen. Seine Bilder brauchen Mitschauende. Er ist ein demokratischer Filmemacher. Kein Museumsdirektor.




Sven Lorenzen, Ticket/Tagesspiegel 24.03.05

Muster einer Metropole – Unternehmen Paradies

Die Kleidung wirkt sehr leger. Man sitzt im Straßenlokal, grillt im Tiergarten und manche Parade zieht durch Berlin. Es ist Sommer in Berlin. Wer sich schon einmal in die heiße Jahreszeit träumen will, dem mag Volker Sattels einstündige Dokumentation eine willkommene Hilfe sein. Das erklärte Ziel des Regisseurs und Kameramannes war es jedoch, mit seinem ersten Werk nach dem Studium an der Filmakademie Baden Württemberg ein anspruchvoll gestaltetes, wortloses Panorama städtischer Oberflächen und Inszenierungen zu schaffen. Und so sieht man Staatsbesuche und begleitenden Journalistenzirkus, sogar der US Präsident erscheint. Er ist allgemein willkommen, denn er heißt noch Clinton. Das neue Kanzleramt ist noch in Bau, Springers Druckereitrakt an der Kochstraße wird abgerissen, im Osten demonstrieren böse Rechte. Die meisten Menschen erscheinen vor allem in und vor Neubauten, die man entweder kennt oder die anonym bleiben. Nicht von ungefähr, denn die Zusammmenstellung der offenkundig von den Jahren 2000 und 2001 entstandenen Beobachtungen soll kein Berlin-Portrait im engeren Sinne sein, sondern – so der Künstler – allgemeine urbane Muster zeigen und die Verbindungen mit dem städtischen Raum sichtbar machen.Anspruchsvolle Impressionen aus Berlin.




Nana Heymann, Tagesspiegel, 30.03.05

Jenseits von Eden

Zwischen Alltag und Spießbürgeridylle: Volker Sattel hat mit „Unternehmen Paradies“ einen Film gedreht, der die weniger schicken Seiten Berlins zeigt

Es beginnt alles mit einer langen Kamerafahrt: Vorbei an biederen Einfamilienhäusern und penibel gepflegten Kleingärten, vorüber an akkurat gepflasterten Garageneinfahrten und normgerechten Gartenzäunen. Spießbürgeridylle am Stadtrand Berlins. Erschreckend, beängstigend und irgendwie abstoßend. Ein Bild, das gar nicht recht zur hippen Stadt passen will. Denn immer, wenn sich Filmemacher an einem Abbild der Stadt versuchen, geht es verrückt, ausgelassen und wild zu. Nicht zuletzt deshalb dient Berlin derzeit vielen Film- und Fernsehproduktionen als Kulisse.

Volker Sattel hat sich mit seinem Werk „Unternehmen Paradies“ bewusst für einen anderen Blick auf die Stadt entschieden. Ein Jahr lang spürte er mit der Kamera Orte auf, die nicht zum angesagten Teil Berlins gehören, aber dennoch den Alltag der Stadt ausmachen. Sattel beobachtete Erotikmessen, Präsidentenbesuche und Bauarbeiten, er erlebte Maidemonstrationen und Karnevalsumzüge. Seine Beobachtungen wirken mitunter monoton, reizlos und banal – aber eben auch anders. „Der Blick, der zurzeit in Filmen und Büchern auf Berlin gerichtet wird, zeigt meist das kulturelle Leben und das Feiern. Dadurch werden lediglich bereits vorhandene Ansichten über die Stadt bestätigt“, sagt Sattel. Bei seiner Arbeit habe ihn ein derartiger Ansatz nie interessiert. Der Filmemacher zeigt Berlin, wie es jenseits von Glanz und Scheinwerferlicht ist: kalt, fremd, anonym.

Vielleicht ist Sattel dieser Blick möglich, weil er als Zugezogener eine distanzierte Betrachtungsweise auf die Stadt hat. Ende der Neunziger, kurz nach Beendigung seines Studiums an der Filmakademie Baden-Württemberg, zog es ihn an die Spree. Seine Affinität zu Berlin, so erzählt er, reicht jedoch bis in die späten 80er Jahre zurück. Immer wieder kam er besuchsweise aus seiner Heimatstadt Speyer hierher. Nun lebt der 35-Jährige in Kreuzberg und arbeitet mit seinem „Büro für Film und Gestaltung“ in Mitte.

Wenn Volker Sattel beim Gespräch in einem Café am Weinbergsweg in Mitte über seine Faszination von Berlin spricht, dann klingt das nach jemandem, der auf der Suche nach dem Unbestimmten zu sein scheint. „Es geht mir nicht darum, das Spektakuläre zu zeigen. Ich suche nach den alltäglichen Dingen, um dadurch mehr über die Stadt zu erfahren“, sagt er, während er in kurzen Zügen an seiner Zigarette zieht. Er sagt, er wolle herausfinden, was die Stadt mit den Menschen macht, wie die Bewohner mit der Stadt umgehen.

Für sich selbst kann er diese Frage auch nach etlichen Jahren wohl immer noch nicht schlüssig beantworten. Sattel erzählt von Erwartungen und Versprechungen, die ihn nach Berlin gelockt hatten, aber nie erfüllt wurden. Dabei schwingt immer eine Ernüchterung über eigene Verklärtheit mit. Dennoch, so resümiert er, habe ihn Berlin beflügelt. Warum? Weil es so viel zu entdecken gibt, gerade an Stellen, an denen man es nicht vermutet. Dabei sei er auf Dinge gestoßen, die großen Wert hätten, etwa eine „ganz eigene Herzlichkeit“. Genau diesen Reiz macht auch „Unternehmen Paradies“ aus: Es geht nicht um das Eindrucksvolle oder Augenscheinliche, seine Dokumentation zeigt die vermeintlichen Kleinigkeiten, die sich dahinter verbergen.

Man müsse nicht immer mit dem Strom schwimmen, auch wenn das mitunter nicht einfach ist, sagt Volker Sattel in Bezug auf seine außergewöhnliche Berlin-Dokumentation. Und vielleicht auch deshalb hat es wohl so lange gedauert, bis ein Filmverleih nun endlich auf das Werk aufmerksam wurde – fast zwei Jahre nach seiner Fertigstellung und nachdem es Ende vergangenen Jahres auf Arte lief.




Berliner Zeitung 24.03.05

UNTERNEHMEN PARADIES
Dtl. 2004. Regie: Volker Sattel.

Diese Dokumentation erkundet die Schauplätze des Berliner Stadtlebens und erzählt von gesellschaftlichen und politischen Happenings zwischen Staatsbesuchen, Demonstrationen und Erotikmesse. Eigenwillig umkreist die Kamera die architektonischen Strukturen und Knotenpunkte Berlins, zieht eine Spur durch idyllische Neubausiedlungen, neue Konsumwelten und transparente Bürokomplexe. Es gibt keine Hauptfigur und nur wenig Sprache, denn die Kamera erzählt alle Geschichten. Sehr empfehlenswert.




Kino-Zeit.de

Unternehmen Paradies - Sinfonie einer Großstadt

Berlin hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Das merkt man schon allein daran, dass überall in der Stadt gebaut wird, dass sich nach wenigen Jahren der Abwesenheit aus der Hauptstadt diese wieder einmal rasant ihr Antlitz gewandelt hat. Eine Stadt erfindet sich stets selbst neu. Doch wohin führt dieser Prozess der permanente Veränderung? Wie erleben ihn die Menschen, die diesem Prozess unterworfen sind? Und wohin geht Berlin, dass sich nach Jahrzehnten des Inseldaseins wieder zu einer der aufregendsten und kreativsten Metropolen der Welt mausert?

Der Filmemacher Volker Sattel hat den Weg Berlins auf ungewöhnliche Weise eingefangen, nahezu ohne Stimmen, ohne Originalton, mit einem eigens komponierten Score versehen. Immer wieder sieht man Menschen warten, ganz Berlin scheint mitunter in Starre und Erwartung zu verfallen ob der Veränderungen, die sich abzeichnen, dann wiederum verschwindet der Einzelne beinahe neben den monumentalen Architekturen oder im Gewühl von Demos, Empfängen und Partys. Merkwürdig fremdet wirkt so das Szenario, die nahezu vollständige Abwesenheit von Sprache lässt Unternehmen Paradies mitunter wie den ethnographischen Film einer extraterrestrischen Expedition erscheinen.

Natürlich erinnert das Vorgehen Sattels an das große Vorbild – an Walter Ruttmanns Berlin. Die Sinfonie der Großstadt aus dem Jahre 1927, doch wenn der monumentale Stadtfilm aus den Zwanzigern eine Sinfonie war, dann ist Volker Sattels Film eine Art Jazz-Improvisation, die ein Thema aufgreift, variiert, abwandelt, damit spielt, Assoziationen knüpft und anschließend wieder zurück kehrt. Ein Film, der bei manchem Zuschauer Fragen aufsteigen lässt, der aber keine Antworten gibt, sondern sich allenfalls als Stimulus für den „Stream of Consciousness“ versteht. Ein filmisches Essay der ganz eigenen Art, das großartige Momente bietet und Raum lässt für eigene Empfindungen und Assoziationen.




Nicolas Sustr, Zitty

Berlindoku

Wer schon einmalleicht angetrunken 25 Minuten am Potsdamer Platz auf den Nachtbus gewartet hat, kennt das Gefühl, das in diesem Film vorherrscht. Volker Sattel beobachtet mit großer Distanz die sich in Berliner Kulisse bewegenden Menschen, guckt ihnen in langen Einstellungen einfach nur zu, manchmal auch voyeuristisch per Teleobjektiv. Er zeigt sie praktisch scheintot in der U-Bahn sitzen, während sich der Zug durch die Röhren schlängelt, oder als Polizisten, Regierungsrepräsentanten und Scharfschützen auf Präsident Clintons Ankunft warten. Oder Fäuste reckend bei der Kreuzberger Mai-Demo. Bei der Internationalen Luft- und Raumfahrtaustellung (ILA) in Schönefeld folgen Blicke und Objektive der Besucher wie ferngesteuert der französischen Flugstaffel. Pochende Musik unterstreicht den mechanischen Eindruck, den die Akteure zwischen den Neubauten machen – sei es der Potsdamer Platz oder eine Einfamilienhaussiedlung an der Peripherie. Auf einen Kommentar verzichtet Sattel ganz. Keine Szene ist inszeniert, alles wurde mit viel Geduld – die manchmal auch dem Zuschauer abverlangt wird – im Laufe des Jahres 200 eingefangen und assoziationsreich montiert. Die Musik und das Sounddesign von Tim Elzer multiplizieren den Eindruck des ins leere laufenden Pauschalversprechens der Neuen Mitte. Vor den Augen des Betrachters entsteht eine beunruhigend unwirtliche Stadt.




Berliner Morgenpost

Aufbruch, Durchbruch

Ein ganz ungewöhnlicher Berlin-Film: Volker Sattels "Unternehmen Paradies"

Neubausiedlungen, Currywurstbuden, Bürokomplexe. Baßzupfen, Gitarrentröpfeln, Klavierklimpern. Regisseur Volker Sattel baut sich sein eigenes Berlin. Die Bilder und die passenden Töne findet er in einer Stadt, die gerade wieder entsteht: am Potsdamer Platz, rund ums Kanzleramt sowie im Speckgürtel. Dazu purzeln einzelne Musiktakte aus dem Off als Akzentuierungen, Frage-, Ausrufezeichen. "Unternehmen Paradies" ist sicherlich einer der ungewöhnlichsten Berlin-Filme überhaupt. Ein Essay darüber, wie das Miteinander von geometrischer Oberfläche (Fassaden, Fenster, Bushäuschen) und inszeniertem Innenleben (Maidemonstrationen, Staatsbesuch, Shopping-Mall) unser Berlin-Bild prägt. Sattel läßt Bilder statt Menschen sprechen, sein Kommentar kommt nicht als Stimme aus dem Off, sondern zeigt sich im Kameraausschnitt. Er zeigt eine große Vorliebe für Rechtecke und Quadrate, große Flächen vor allem. Ein Bagger knabbert die Druckerei des Springer-Verlages an, ein Wasserwerfer bahnt sich einen Weg durch die Mai-Demonstranten und der Konvoi des US-Präsidenten Clinton durch die Straßen der Stadt. Aufbruch, Abbruch, Durchbruch.

Es ist heiß im sommerlichen Berlin des Volker Sattel, das Licht verstärkt dessen surrealen Blick. Und es ist leider ein Film zur falschen Zeit. Clinton ist lange weg, der Potsdamer Platz lange fertig, der nächste Sommer noch weit entfernt. "Unternehmen Paradies" hatte schon vor drei Jahren, als er fertig gestellt war, historischen Charakter. Heute wirkt er wie aus der Zeit gefallen.




Die Welt

Unternehmen Paradies

Unternehmen Paradies verzichtet ganz auf Statements, auch Originaltöne gibt es kaum. Das Visuelle dominiert, unterstützt von meist glücklich gewählten musikalischen Themen. "Unternehmen Paradies" von Volker Sattel beginnt mit Kamerafahrten durch Neubausiedlungen, hält Szenen in disparaten Räumen der Stadt fest. Die Fotografie ist präzise, die Kompositionen verblüffend schön. Oft sind es mit dem Teleobjektiv erhaschte, fast wie mit versteckter Apparatur gestohlen anmutende kleine Szenen, die hier versammelt sind. Der Umbau Berlins führt nicht ins Paradies, aber in eine neue, widersprüchliche Stadt. Volker Sattels Film hält bestimmte ihrer Momente höchst artifiziell fest. Es gibt viele ein-prägsame Szenen, meist sind es die Momente, in denen Menschen einsam in Architekturwelten aufzu-treten scheinen. Der distanzierte Blick macht uns Berlin fremd, merkwürdig, interessant.
Das ist eine große Leistung.